Eduard Pütz: Erinnerungen an meine Kindheit und Schulzeit
in der Vor-, Kriegs- und Nachkriegszeit
Eduard Pütz wurde am 23.03.1935 geboren. Als Zeuge einer Zeit, über die heute nur noch Wenige persönlich berichten können, erzählt er aus seiner Kindheit und Schulzeit in der Vor-, Kriegs- und Nachkriegszeit, von 1935 bis 1952. Frau Hedwig Ahrens, Frau Kleinen und Herr Winfried Simons haben seinen Bericht in Wort und Bild festgehalten.
"Am 23.März 1935 wurde ich als erstes und einziges Kind von Katharina Meessen und Hubert Pütz in Bardenberg geboren. Meine Familie wohnte damals in der Rolandstraße in Kohlscheid; mein Großvater, Dionesius Pütz, und meine Großmutter Eva, geb. Prickartz, wohnten in Kohlscheid in der Karlstraße 30.
Mein Vater arbeitete auf der Gruppe Gouley in Würselen. Von dort ging er abends zu Fuß nach Hause; er trug immer Turnschuhe. Er war Kommunist und hatte somit in den dreißiger Jahren keinen leichten Stand. Eines Tages blieb er auf dem Heimweg in Schweilbach vor dem brennenden Haus eines Funktionärs, dem man die Wohnung angezündet hatte, stehen. Die Braunhemden erkannten meinen Vater und schlugen ihn halb tot.
Eines Tages im Jahre 1938 wurde er aus der Zeche geholt: Es liegt die Vermutung nahe, dass dies aus Furcht vor Sabotage durch Kommunisten geschah. Daraufhin mussten wir aus der Grubenwohnung in Roland ausziehen. Wir zogen nach Klinkheide in die Bendstraße 48. Das elterliche Haus in der Rolandstraße heute ist im Bild 1 zu sehen.
Allein der Verdacht der Gefahr der Sabotage genügte, um meinen Vater vor die Wahl zu stellen, als Soldat im Grenzschutz eingesetzt oder in ein Konzentrationslager gebracht zu werden. Er entschied sich für den Grenzschutz und wurde in Horbach eingesetzt. Zur Uniform trug er einen breitkrempigen Hut wie ein Ranger. Er stand in Horbach Wache. Mit meiner Großmutter mütterlicherseits, die in Bleyerheide wohnte, war ich einmal dort. Dort habe ich ihn das letzte Mal gesehen und ihn so in Erinnerung behalten.
Mein Vater wurde schließlich einberufen und kam 1940 nach Frankreich (Bild 2). In Rouen wurde er verwundet: Aus dem Gebüsch heraus wurde von einem Panzer auf die deutschen Soldaten geschossen – gezielt auf die Beine. Die Verletzten kamen nach Lille ins Lazarett. Dort ist er auch verstorben, er hat das Lazarett gar nicht mehr verlassen. In Lille wurde er auch beerdigt.
Später legten die Amerikaner Soldatenfriedhöfe an und betteten ihn um nach Champigny St. André in der Nähe von Évreux in der Normandie. Das Bild Nr. 3 am Ende des Textes zeigt diese deutsche Kriegsgräberstätte, 25 Kilometer südöstlich der Stadt Évreux. Der Friedhof wurde im August 1944 von den Amerikanern angelegt. In zwei großen Gräberfeldern wurden damals amerikanische sowie auch deutsche Soldaten bestattet [27.09.2023] (1).
Als mein Vater gefallen war, wollte meine Mutter als Deutsche nach Holland umziehen. Die Politik ließ das nicht zu, weil sie die deutsche Staatsangehörigkeit hatte. 1944 kamen die Amerikaner ins Spiel: Da der Ehemann verstorben war, erhielt meine Mutter automatisch die holländische Staatsangehörigkeit zurück. Damit ergaben sich während wie auch unmittelbar nach dem Krieg Probleme: Vor Kriegsende durfte sie nicht zurück nach Holland, da Hitler die Ausreise verboten hatte; nach dem Krieg durfte sie nicht nach Holland einreisen, da sie für eine Deutsche gehalten wurde: Meine Mutter wollte aber mit mir nach Bleyerheide zu meinen Großeltern ziehen. Da alle anderen Grenzübergänge gesperrt waren, mussten wir nach Vaals fahren. Am Zoll wurden wir aufgehalten, weil man meine Mutter für eine Deutsche hielt. Da meine Mutter sich nicht ausweisen konnte und damit ihre mündlichen Angaben zur Nationalität nicht bestätigt wurden, wurde in Aachen bei der Hauptkommandantur nachgefragt. Der Kommandant kam persönlich in einem amerikanischen Wagen, auf dessen Trittbrettern vier mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten standen, zur Zollstation. Nachdem meine Mutter die Zusammenhänge erklärt hatte, befahl der Kommandant die Einreise. Während der Möbelspediteur Scholtes aus Bleyerheide mit seinem Fuhrwerk den Möbeltransport übernahm und die Möbel zu den Großeltern in Holland brachte, kamen meine Mutter und ich für etwa zwei bis drei Monate in ein Internierungscamp in Vught bei Hertogenbosch.
Noch bis 1950 musste meine Mutter sich jeden Morgen bis 9.00 bei der Polizei in Kerkrade melden.
Von 1941 bis 1943 besuchte ich den Unterricht der Volksschule Klinkheide. Meine Lehrerin dort war Fräulein Johanna Offergelt. (Im Bild 4 ist Frl. Offergelt in der hinteren Reihe links zu sehen.)
Der Rektor der Schule war Herr Ollig. Jeden Morgen mussten wir uns in Hufeisenform auf dem Schulhof — genau gegenüber dem Haus Moers, die spätere (inzwischen geschlossene) Gaststätte Görtz — aufstellen, den Deutschen Gruß zeigen und Lieder singen. Ich erinnere mich an: „Noch einmal gegen England, USA, Russland, dann gehört uns die ganze Welt.“ [Die Zeile "Noch einmal gegen England, USA, Russland, dann gehört uns die ganze Welt" stammt aus dem Lied "Wenn wir marschieren" … Dies ist ein nationalistischer Marsch, der die Vorstellung einer deutschen Weltherrschaft durch militärische Eroberungen propagiert. Es ist wichtig zu betonen, dass dieses Lied in Deutschland sehr umstritten ist und als propagandistisch und nationalistisch kritisiert wird. (2)]
Eines Tages wurde ein Junge aus meiner Klasse herausgeholt; einen Grund erfuhren wir nicht. Er kam nie wieder. In dieser Zeit erlebte ich auch, wie in Klinkheide Juden abgeführt wurden. Die am Straßenrand stehenden Passanten klatschten Beifall. Kaum war der LKW verschwunden, wurden die Wohnungen der deportierten Juden geplündert.
In der Schule durfte kein Morgengebet gesprochen werden. Wie alle Kinder war ich für Hitler begeistert. So wollte auch ich in die Hitlerjugend; meine Mutter sagte: „Ich schlag dich kaputt, wenn du das machst.“
Während des Krieges musste meine Mutter in Kohlscheid etwas auf dem Amt — dem Bürgermeisteramt Kohlscheid Kaiserstraße — erledigen. Sie trat in die Amtsstube und grüßte, wurde wieder hinausgeschickt. Das wiederholte sich mehrfach, bis ein auf dem Flur wartender Besucher ihr erklärte: „Sie müssen Heil Hitler sagen“. Das beherzigte sie und man nahm sich ihres Anliegens an.
Etwa zwei Jahre nach dem Krieg ging sie wieder zum Amt, weil sie die Fahrräder, die sie während des Krieges im Saal Weststraße (später Kegelcity, heute befindet sich dort ein Bürogebäude) abgeben musste, zurückholen wollte. Als sie das Amt betrat, saß dort dasselbe Personal wie im Krieg. Sie grüßte mit „Heil Hitler“. Die Beamten guckten beschämt auf ihre Unterlagen. Die Beamten fragten nach ihrem Begehr und erledigten die Angelegenheiten. Die Fahrräder erhielt sie nie wieder zurück.
Von der großelterlichen Wohnung in Holland aus konnte man die Kirchturmuhr von St. Josef in Straß auf der deutschen Seite sehen. Ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter mir auf die Kirchturmuhr deutend erklärte, dass in Deutschland Sommerzeit war.
1944 wurden hier in Kohlscheid alle Leute evakuiert. Meine Mutter entzog sich der Evakuierung: Sie wollte mit ihrem Sohn nach Holland zu ihren Eltern. Wir gingen durch den Wald „durch das Loch“, wie die Bahnunterführung unterhalb von Klinkheide von Kohlscheidern genannt wird, nach Pannesheide zum Zoll. Der gesamte Bereich war übersät mit Schanzen, in denen Hunderte SS-Soldaten mit Maschinengewehren lagen. Als wir von Klinkheide weggingen, begegneten wir Militär: ein jüngerer und ein älterer Soldat. Diese warnten uns: „Wenn ihr da durchgeht, werdet ihr erschossen.“ Die Mutter antwortete: „Wir gehen dadurch, entweder werden wir von deutschen oder den anderen erschossen.“ Die Soldaten hatten rote Äpfel dabei und schenkten uns einige. Wir gingen quasi durch die Front zu den Großeltern und kamen unbehelligt in Bleyerheide an. Am nächsten Tag kam es auch bei den Niederländern zur Evakuierung. Ich kam nach Valkenburg (Hotel Plenker Turist), meine Mutter nach Weylre, die Großmutter nach Schinnen. Die Trennung dauerte ca. drei bis vier Monate. Mein Großvater kam zufällig nach Valkenburg und nahm mich einmal mit nach Schinnen. Dort war ein Metzger, der Kutschen hatte. Später fuhr mein Großvater mit diesen Kutschen die Evakuierten nach Hause. Nach der Evakuierung kam ich zu den Großeltern, die Mutter stieß später dazu.
Nach dem Krieg durfte ich als Deutscher nicht in die holländische Schule gehen. Nachmittags spielte ich zusammen mit den holländischen Kindern. Eines Tages fragte ich einen Spielkameraden, ob es in seiner Schulbank noch Platz gäbe. Da dieser das bejahte, ging ich eines Morgens einfach mit einem Freund in die Schule in Bleyerheide bei den Brüdern im Kloster. Niemand stellte Fragen, der Lehrer schrieb nur meinen Namen auf. Seitdem besuchte ich die Schule Kerkrade hinter dem Krankenhaus bei Schullehrer Hammer.
Meine Mutter lernte in Bleyerheide einen Mann kennen; 1950 heiratete sie wieder und hieß nun Thomas. Ich selbst wurde seitdem bei den Großeltern in Bleyerheide großgezogen. Durch die erneute Heirat wurde die Mutter dann offiziell wieder Holländerin und musste sich nicht mehr bei Polizei melden. 1952 verstarb meine Mutter im Alter von 37 Jahren.
Schon als junger Bursche von dreizehn Jahren fing ich an zu arbeiten. Als Gemüsehändler zog ich mit dem Pferdewagen durch Holland (Bild 5)."
1 Google abgerufen am 18.01.2025 16:55
2 Google abgerufen am 18.01.2025 16:55
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