Heimatverein Kohlscheid 1932 e.V.
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Kohlscheider Geschichte bewahren – Heimat erleben

Kohlscheider Wandel: Von der Bergarbeitersiedlung zum lebendigen Stadtteil

Geschichten und Erinnerungen aus Kohlscheids bewegter Vergangenheit und seiner Entwicklung zur modernen Gemeinschaft

Dieser Text entführt uns in die Geschichte von Kohlscheid, einem Stadtteil von Herzogenrath, der sich von einer armen Bergarbeitersiedlung zu einem lebendigen Zentrum für Kultur und Technologie entwickelt hat. Die Erzählung von Peter Dinninghoff führt uns durch die prägenden Jahre zwischen 1800 und 1900, in denen Kohlscheid von Feudalherrschaft und ländlicher Beschaulichkeit zu einem bedeutenden Industrieort aufstieg. Dabei wird deutlich, wie die Menschen dieser Region – oft arm, aber stets fest entschlossen – ihren Ort mitgestalteten und wie ihre Taten und Traditionen noch heute in Kohlscheids Identität lebendig sind.

von Peter Dinninghoff

Heimat und Tradition, Geschichte und Geschichten, Vereine und Schicksale, Feudalherrschaft und Industrie, Sensationelles am Kohlscheider Himmel und tief unter der Erde, kleine schmale Gassen und Sackgassen, wo ein kleines Häuschen mit Anbau dem nächsten kleinen Häuschen folgt und das Ganze „Meester“ heißt, wo einzelne Wohnbereiche „am Baum zu Forstheide im Winkel neben der Bocksgasse“ hießen oder ein ganzer Ortsteil sogar „jeck Dörp“ genannt wurde, in der noch heute eine eigene Dorfkultur lebt – von Schützenknall bis Karneval!

Unsere Vorfahren hier lebten arm, gottesfürchtig, festfreudig und selbstbewusst und erlebten insbesondere die Zeit zwischen 1800 und 1900 als Veränderung von einer Vielzahl kleiner Häusergruppen zu einem dominierenden Industrieort. In Versform möchte ich diese Kernzeit von Kohlscheids Entwicklung beschreiben:

Es rauchen Schlote, Kullkarren fahr'n,
es raucht die Lok der Eisenbahn,
der Herd raucht hier an allen Tagen,
der Dämon raucht in alten Sagen,
es raucht der Abraum, wenn er brennt,
die Socken rauchen, wenn man rennt,
der Papst raucht höchstens auf dem Klo
statt Weihrauch auch mal Marlboro,
es rauchte und die Luft die stank
von Laurweg und Hankepank!

Dreckindustrie ist heut verschwunden, den Anschluss hat Kohlscheid gefunden, an Hightech und an Grünrevier, der Hauptgewinn jedoch sind: Wir! Wir Bürger feiern die Vergangenheit und gestalten das Heute und das Morgen!  

Die Ansammlung von kleinen Häusergruppen ist mittlerweile der größte Stadtteil Herzogenraths, und wir sind Teil einer sehr positiven Entwicklung – vom dreckigen Bergarbeiterdörfchen zum gefragten Kultur-, Arbeits- und Wohnzentrum in der Nähe der RWTH und der Großstadt Aachen. Wir genießen die Ergebnisse von Kohlscheids Umbruch. Genießen wir daher auch die Erinnerung an Menschen und Ereignisse aus dieser prägenden Zeit.  

Jeder, ob er wollte oder nicht, bekam schon vor über 200 Jahren in Kohlscheid mit, dass sich die Zeiten ändern. Der alte Trott bekam sozusagen einen Tritt in den Hintern. Für fast alle erschreckend erschien am Himmel ein riesiger Ballon, der auf einer seiner ersten Luftfahrten über Deutschland in Aachen gestartet war. Immer tiefer schwebte er über Kohlscheid und landete schließlich in Klinkheide.

Jahrzehnte später, nämlich 1818, fand in Aachen der Monarchen-Kongress statt. Kaiser, König und Zar genossen wochenlang Aachen und die Umgebung. Während der Ballon noch durch Zufall in Kohlscheid gelandet war, war der Ort jetzt ausgesuchtes Ziel, um eine arbeitende Dampfmaschine in einem Bergwerk zu besichtigen, aber auch ältere Entwässerungskunst eines Bergwerks in Form einer Windmühle. So etwas hieß damals noch „Windkunst“. Und plötzlich flüstert uns irgendetwas ins Ohr: Da gibt es eine Straße mit Namen: „An der Windkunst“. Festzuhalten bleibt, selbst für Kaiser und Könige hatte Kohlscheid was zu bieten.

Die weitere Entwicklung prägten „Menschen der Tat“, von denen es hier auch heute noch bewundernswerte Exemplare gibt. Kohlscheid war arm und elend und nicht, wie Berlin, „arm und sexy“, wie es ein ehemaliger Bürgermeister von Berlin beschrieb. Ein Kohlscheider Geistlicher schrieb einmal: „Kohlscheid hat mit seinem Kohlestaub, seinen schwarzen, elend aussehenden Menschen und seinen unsauberen Wegen und Häusern einen höchst widerlichen Eindruck auf mich gemacht.“  

Jahre später bittet ein Vikar dringend um Versetzung, weil Kohlscheid eine mühevolle und von großer Armut gekennzeichnete Arbeitsstätte ist. Dann gibt es 1862 doch tatsächlich einen Geistlichen, der sich freiwillig nach Kohlscheid bewirbt. „Der muss doch 'en Rad abhaben“, mag mancher gedacht haben. Pfarrer Michels aus Eupen hatte sich beworben. Als achtes von neun Kindern hatte er anscheinend frühzeitig gelernt, sich gelehrig, aber auch tatkräftig durchzusetzen. Pfarrer Michels' Vorgesetzter charakterisierte ihn so: „...hat manche guten priesterlichen Eigenschaften... zeigt aber auch Anmaßung und zog sich schon mehrfach den Zorn von Personen aus dem gemeinen Volk zu.“

Bekannt ist: Zweimal versuchten wohl mehrere Männer, Pfarrer Michels zu überfallen und zu verprügeln. Tatkräftig, wie Michels war, sorgte er dafür, dass jeweils insbesondere die Angreifer die Prügel erhielten und vor den Fäusten des Pfarrers schließlich Reißaus nahmen. So einen Mann brauchte man in Kohlscheid. Zusammen mit dem Bergwerks-Spezialdirektor Carl Hilt brachte Pfarrer Michels das soziale Engagement zum Blühen und gründete um sich herum alle möglichen Vereine für und gegen alles, was die Menschen hier positiv beeinflussen konnte, so einen Borromäusverein und einen Bonifatiusverein, einen Jünglingsverein und einen Jungfrauenverein, insbesondere aber einen katholischen Volksverein zur Erleuchtung und Bildung.

Seine aufsehenerregenden Vorträge über Geschichte und Kultur wurden gehört, weit über Kohlscheid hinaus. So wundert es auch nicht, dass er den Aachener Geschichtsverein mitgründete und 2. Vorsitzender wurde. Als Pfarrer Michels schließlich starb, folgten 26 Geistliche und 2000 Kohlscheider seinem Sarg.

Auch auf eine zweite menschliche Legende können wir stolz sein: Carl Hilt. Er war ein fachliches Genie für den Bergbau und gleichzeitig eine menschliche Kapazität, die, wie Pfarrer Michels, den Kampf gegen das Elend in Angriff nahm. Er sorgte für sauberes Wasser durch eine funktionierende Wasserleitung zu 8 Pumpen (Piefen). Als man untertage zusätzlich noch eine bessere Quelle fand, wurde sie umgehend an die Wasserleitung angeschlossen. 1911 übernahm dann der Wasserturm Bardenbergs mit dem zugeführten Wasser aus der Eifeltalsperre Dreilägerbach in Roetgen auch hier die öffentliche Trinkwasserversorgung.

Eine der besten Knappschaftsversicherungen, ein Solidaritätsverein mit Unterstützungskasse, Verpflegung der Bergleute und ein Konsum-Einkauf für preiswerte Waren, aus denen sich später Hillko entwickelte, das sind einige Beispiele für das Wirken von Carl Hilt. Aufsehenerregend war auch Carl Hilts Prämie gegen Branntweinmissbrauch. Wer ein Gelübde gegen Branntweinmissbrauch einhielt, bekam eine Geldprämie. 60 % der Bergleute schafften es. 100 % der Gastwirte schafften es, auf diese Prämie wütend zu sein, weil sie ihnen das Geschäft vermieste. Kohlscheid eben!

Von Wirtsseite war man wohl der Meinung: „Der größte Feind des Menschen Wohl, das ist und bleibt der Alkohol. Doch irgendwo, da steht geschrieben, man soll auch seine Feinde lieben!“

In dieser boomenden Zeit zwischen 1800 und 1900 wurden in Kohlscheid Straßen gebaut, Eisenbahngleise verlegt und sogar ein Elektrizitätswerk errichtet, so dass Kohlscheid der erste Ort des Kreises Aachen war, der elektrischen Strom hatte. Kurz danach fuhr auch schon eine Straßenbahn, zeitweise bis zum Markt.

Der Kohlefernverkehr boomte natürlich auch. Vor der Industrialisierung wurde die Kohle auf den schlechten Wegen durch „Kohlegidse“ nach Aachen und die Umgebung transportiert. In Aachen war der Karrentransport der Kohle durch die Stadt Aachen untersagt, so dass eine Karawane von bemitleidenswerten Pferden die Kohle in übergeworfenen Säcken dorthin transportierte. Das Bild von Kämpchen zeigt die Schlange der wartenden Kohlekarren, die wie die Eisenbahn nun die Kohle transportierten. Etwa 1000 Kohlekarren wurden so Tag für Tag durch Kohlscheid transportiert. Erstmals gewöhnte sich der Kohlscheider an heutige Verhältnisse, wenn es hieß: Stau auf der Roermonder Straße!