Schmuggelparadies und Schmuggelhölle Kohlscheid
Einblick in die Schmuggelzeit
In der Grenzregion zwischen Deutschland und den Niederlanden war Kohlscheid jahrzehntelang ein Brennpunkt für Schmuggelaktivitäten. Die Geschichten von Kaffeefronten und Schmuggelkriegen spiegeln die dramatischen Auseinandersetzungen wider, die sowohl gefährlich als auch prägend für die Region waren. Von den harten Konflikten an den Grenzübergängen bis hin zu den Konsequenzen für die Menschen vor Ort bietet dieser Text einen Einblick in die turbulente Geschichte des Schmuggels in Kohlscheid.
Vom Hörensagen, aus den Medien und von den Älteren hören wir Geschichten aus der Schmuggelzeit. Da wird von einer „Kaffeefront“ erzählt oder vom „Loch im Westen“. Der „Schmuggelkrieg“ zwischen Zöllnern und Schmugglern hat in unserem westlichen Grenzbereich viele tote Schmuggler, einzelne tote Zöllner, aber auch einige tote Unbeteiligte zur Folge gehabt. Schon die Wortwahl: Kaffeefront, Schmuggelkrieg und Loch im Westen beweist uns, dass „mit harten Bandagen gefochten wurde“ und je nach Situation der Ausgang paradiesisch oder höllisch tödlich sein konnte. Es wurde hier in Kohlscheid und direkt an der Grenze scharf geschossen.
Die Sperrzone und ihre Auswirkungen
Direkt nach den beiden Weltkriegen hatten die Besatzungsmächte an der Grenze schon eine Sperrzone errichtet, die in der Folgezeit dann zwar immer lockerer gehandhabt wurde, immer aber Schusswaffengebrauch androhte. Deutsche und niederländische Grenzbeamte waren bis Ende der 50er Jahre angehalten, illegale Grenzübertritte auch mit der Schusswaffe zu verhindern.
Historische Hintergründe
Wie kam es eigentlich dazu, dass unsere Heimat sich je nach dem Verlauf eines illegalen Grenzübertritts als Schmugglerparadies oder Schmugglerhölle sah? Alles Außergewöhnliche beginnt ja im Aachener Raum mit Karl dem Großen. So auch hier. Die Umgebung Aachens war karolingisches Kernland, das, vereinfacht ausgedrückt, von seinen Nachfolgern in zwei wesentliche Teile aufgeteilt wurde, aus denen sich später Frankreich und Deutschland entwickelten. Unsere Heimat wurde so in der Folgezeit immer wieder umstrittener Grenzbereich, in dem die Grenzen sich neuen politischen Gegebenheiten anpassen mussten. Nach der Niederlage Napoleons gab es ja diesen berühmten Wiener Kongress, der die für uns heute noch wichtigen Grenzen in unserer Heimat zog. Kohlscheid und Herzogenrath kamen zu Preußen und unser westlicher Nachbarbereich von Kerkrade zu den Niederlanden. Eine Grenze, die zwei Länder trennt, trennt auch verschiedenes Recht, verschiedene Steuern und verschiedene Preise. Derjenige, der in dem einen Land eine Ware billig kaufen und im anderen Land teuer verkaufen oder selbst nutzen kann, hat einen großen finanziellen Vorteil. Der Staat und die Gemeinschaft verlieren aber so viel Geld und sind deshalb bestrebt, den Transport von Waren in das eigene Land zu regeln. Zoll heißt diese Regelung und Schmuggel nennt man das Missachten dieser Regel. Grenze und Zoll gehören also zusammen, Grenzkontrolle wird bei Grenzübertritten ein wichtiges Wort.
Ältere von uns erinnern sich sogar noch daran, dass auf den Ortsschildern unter dem Namen Kohlscheid, Herzogenrath oder Aachen der Begriff „Zollgrenzbezirk“ stand. Das bedeutete: Es gelten in diesem Bezirk für Reisende, aber auch für die Bewohner und den Zoll ganz besondere Regeln. Bei Grenzübertritten gab es für besondere Waren, wie z.B. Kaffee und Zigaretten, kleine Freimengen, die man problemlos einführen durfte. Der menschliche Geist findet aber immer Möglichkeiten, Landesgrenzen oder Freimengengrenzen kreativ zu überschreiten oder auszuweiten. Der Zöllner sprach z.B. davon, dass Schmugglerin oder Schmuggler „untergepackt“ hatten, um das Schmuggelgut unbemerkt über die Grenze zu transportieren. Das war meist noch der harmlose Schmuggel durch Einzelpersonen, die in Notzeiten so auch Butter über die Grenze schmuggelten. Die männlichen Zöllner durften Frauen bei Grenzübertritt nicht körperlich durchsuchen. Wenn es dann aber eine Frau für die Zöllner zu weit trieb, indem sie offensichtlich in Kleidergröße 36 in die Niederlande ausreiste, um kurz danach in Kleidergröße 46 wieder einzureisen, dann wurde sie schon mal zum Warten neben einem heißen Ofen gesetzt. Wenn dann die untergepackte Butter auf dem Körper langsam flüssig wurde, meldete sich meist eine reumütige Sünderin und bat um Milde. Auch das kann man noch himmlisch, aber auch schon ein bisschen höllisch, nämlich für die Sünderin, nennen.
Die Eskalation des Schmuggels
Höllisch wurde es aber für beide Seiten, wenn Berufsschmuggler auf Zöllner stießen, beide Seiten, also auch die Schmuggler, auf unterschiedliche Art bewaffnet waren und von Schmugglerseite sogar gepanzerte Kraftfahrzeuge eingesetzt wurden. Dass Kohlscheid hier eine Hauptrolle spielte, erfahren wir aus den folgenden Ereignissen:
Im Wurmtal geraten ein Zöllner und ein Schmuggler aneinander. Der Schmuggler wird durch einen Streifschuss am Kopf verletzt. Zwei Monate später landet eine Zöllnerkugel in der Wade eines Schmugglers. Auf der Roermonder Straße durchbricht ein Schmugglerauto eine Zollsperre. Eine Schießerei folgt. Der Fahrer schafft es noch schwerverletzt bis zur Südstraße, wo er am Steuer zusammenbricht und später im Krankenhaus stirbt. Durch einen blockierenden Lkw am Banker Tunnel wird ein flüchtendes Schmugglerfahrzeug ausgebremst. Beute des Zolls: 1,6 Tonnen Kaffee, 100 kg Kakao, 12.000 Zigaretten, 1.600 Zigarren und weiteres Schmuggelgut. Drei Schüsse ins Bein eines Schmugglers. Er entwischt trotzdem und wird am nächsten Tag in der Projektstraße festgenommen. Wiederum eine Schießerei im Wurmtal. Der Arm eines Schmugglers ist plötzlich schwerer geworden, weil eine Kugel drin sitzt. In der Mühlenbachsiedlung trifft es den Oberschenkel eines schmuggelnden Radfahrers, und in der Nordstraße kommt ein Schmuggler mit Lungensteckschuss gerade noch mit dem Leben davon. Eine Woche später wird in Kohlscheid eine Bande aufgegriffen, die große Mengen Kaffee, Tabak, Zigaretten und Fleisch mit sich führt. Am gleichen Tag landen auch in Horbach und Bardenberg Großschmuggler im Netz des Zoll. Falsche Guldenstücke tauchen im Grenzland auf. Die Fälscherwerkstatt und die Fälscher findet man schließlich in Kohlscheid. Eine Schmugglerkolonne mit 300 kg Kaffee wird im Wurmtal festgenommen, während am gleichen Tag in Kohlscheid auch noch ein Lkw mit 1.350 kg Kaffee, versteckt unter Briketts, gestellt wird. Am nächsten Tag wird auf zwei Schmugglerkolonnen geschossen. Zwei Träger werden getroffen. Ebenso landen in Klinkheide kurz danach Kugeln im Arm und im Oberschenkel eines Schmugglers.
Ja, das sind Ereignisse aus dem Schmuggel-Kampfgebiet Kohlscheid kurz vor der Übernahme der Macht durch die Nazis. Bei der Durchsuchung einer Gaststätte in Kohlscheid entdeckt man plötzlich eine Geheimtür, hinter der sich eine große professionelle Schwarzbrennerei befindet. Sozusagen Qualitätsalkohol für den Kumpel hier und den Schmuggel in Richtung Niederlande aus eigener Kohlscheider Herstellung.
Das Ende der Schmuggelzeit
Die Abriegelung der Grenze durch die Nazis läutete das Ende dieser Schmuggelperiode ein. Die sehr beliebte Neustraße als „Brücke in die Niederlande“ wurde immer stärker bewacht und schließlich sogar durch hohen Stacheldraht abgeriegelt. Der Fahrzeugverkehr wurde extrem behindert. Das war ein markanter Einschnitt in die Lebensgewohnheiten, schließlich hatte man fast 20 Jahre lang die Möglichkeit gehabt, auf der Neustraße Höhe Holz von der niederländischen Straßenbahn, die durch Kerkrade fuhr, auf die deutsche umzusteigen, die über die Neustraße Richtung Aachen oder Richtung Herzogenrath fuhr.
Der Fahrzeugverkehr, der normalerweise von Herzogenrath über die Neustraße nach Aachen fuhr, wurde schon in Herzogenrath über Bardenberg nach Aachen geleitet und die heutige Hauptdurchfahrt durch Straß wurde damals erstellt, um Abstand zur Grenze zu erzeugen.
Die Nachkriegszeit und der Übergang zur Gegenwart
Die Not zum Ende des II. Weltkriegs läutete die nächste Schmuggelphase ein. Die US-Army befreite im Herbst 1944 die Niederlande von den deutschen Besatzern und eroberte die Umgebung Aachens. Die hungernde Bevölkerung nutzte jede Möglichkeit, an Nahrungsmittel zu kommen, auch im Nachbarland. Der US-Army war es daran gelegen, der Versorgung der befreiten Niederlande den Vorzug zu geben vor der Versorgung der Bevölkerung des Kriegsgegners Deutschland. Als daher nach der Flucht des deutschen
Militärs aus Kerkrade von den Bewohnern der Neustraße der Stacheldraht-Sperrzaun niedergerissen wurde, errichteten die US-Soldaten kurz darauf wieder einen neuen. Mit Sehnsucht blickten die hungernden Deutschen zu den niederländischen Nachbarn, von denen sie durch eine Sperrzone getrennt waren.
Nach Ende der Kampfhandlungen gegen Deutschland wurden die Regelungen wieder ziviler, ein eingeschränkter Grenzverkehr wurde ermöglicht und der Schmuggel wurde von den Kohlscheidern entdeckt, um die eigene Not etwas zu lindern, aber auch um Geschäfte zu machen. Die eigene Not der Deutschen wurde trotz der negativen Erfahrungen durch die großzügig verzeihenden Kerkrader schon durch so Kleinigkeiten gelindert, dass der erste Karnevalsumzug über die Nieuwstraat geleitet wurde und man vom Kerkrader Prinzenwagen Brot zu den hungrigen deutschen Nachbarn warf - sozusagen Kamelle in der allernötigsten Form-. Ich denke, die Limburger sind schon außergewöhnlich patente Nachbarn. Danke! Sowas begründet Eurode!
So wie der Aachener nach Einführung des kleinen Grenzverkehrs seinen Familienausflug nach Vaals machte, um mit den kleinen Freimengen und etwas Geschmuggeltem seine Situation zu verbessern, so suchte der Kohlscheider den nahen Grenzbereich Kerkrade auf. Als sich der Schmuggel vom kleinen Überlebensschmuggel aber immer mehr zum organisierten Bandenschmuggel und kriminellem Geschäftsschmuggel entwickelte, da verlagerte sich der Schwerpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Zöllnern und Schmugglern in den Bereich südlich von Aachen. Nach dem II. Weltkrieg war nämlich der Preisunterschied zwischen Belgien und Deutschland beim Kaffee besonders hoch. Das, zusammen mit den großen Waldflächen südlich von Aachen, bot besonders geeignete Schmuggelmöglichkeiten. Der Zoll beschlagnahmte allein 1949 die ungeheure Menge von fast 150.000 kg Kaffee. Die Menge, die „durchgekommen ist“, beträgt ein Vielfaches. Kontrollschwerpunkt war in dieser Zeit die Eifel. Trotzdem blieb der Bereich Kohlscheid und Herzogenrath ein Haupteinsatzgebiet des Zolls. Die örtlichen Gegebenheiten erforderten das einfach. Wer kennt als älterer Kohlscheider nicht den offiziellen Grenzübergang in Pannesheide, der offiziell den Namen Grenzübergang Kohlscheid trug. Wie erzählte es mir ein Pendler, der jeden Tag mit dem Fahrrad von Kerkrade nach Kohlscheid pendelte: Jeden Tag musste ich mitsamt meinem Fahrrad über die Rampe durchs Zollgebäude. Und immer mal wieder nahm ein Zollbeamter mein Fahrrad an der Stange hoch und ließ es wieder leicht auf den Boden plumpsen, um am entsprechenden Geräusch zu hören, ob im Reifen nur Luft oder eventuell auch Kaffee war.
Heute ist die Grenze für den Normalbürger unsichtbar. Manche erinnern sich noch an das Mäuerchen auf der Neustraße, das länger stand als die Berliner Mauer. Kohlscheid als Schmuggelzentrum, überhaupt der gesamte Schmuggelbereich um Aachen, sind aus den Medien verschwunden. Wir Kohlscheider werden ab und zu noch an Schmuggel erinnert, wenn wir im Umfeld der Roermonder Straße oder bei einer Fahrt nach Aachen im Bereich der Autobahnabfahrt die Bundespolizei bei Kontrollmaßnahmen beobachten. Dabei geht es meistens um Rauschgift-, Waffen- oder Menschenschmuggel.
Peter Dinninghoff